Über Marketingcoups und teuflische Nächstenliebe
Von Øle Schmidt, San Cristóbal de las Casas, Chiapas, Mexiko
»Wunderbar!«, dachte ich, »dann wäre auch das endlich mal geklärt«, und betrachtete zufrieden die dunkelrote Fassade vor meiner Nase. »Farmacia de Diós« stand dort in großen schwarzen Lettern geschrieben: »Gottes Apotheke«. Wer hatte sich nicht schon mal gefragt, was Gott eigentlich beruflich so macht, wenn er nicht gerade als rechte Hand von Diego Maradona aushalf oder notorischen Sündern one-way-Tickets in die Hölle verpasste.
Gleichstellungsbeauftragter? Compliance-Chef der Vatikanbank? Schutzengel von Kardinal Woelki? Oder doch irgendwas mit Medien?
Ich beschloss, dem Schriftzug auf der abgerockten Hauswand in San Cristóbal de las Casas Glauben zu schenken. Und wenn Gott schon Apotheker war, sollte ich ihn bei Gelegenheit fragen, ob der Corona-Virus eine Idee des Antichristen war.
Der »Arsch von Mexiko«
San Cris, wie alle es nannten, war ein Paradoxon. Eine zu klein geratene Großstadt; mit kosmopolitischer Bohème inmitten des ärmsten mexikanischen Bundesstaates Chiapas; ein Paradies der Fleischesser, mit einer Veganer-Dichte, die es locker mit dem Prenzelberg aufnehmen konnte; ein Platz mit hochkultureller Maya-Vergangenheit und ohne Gegenwart für die vielen abgehängten Nachfahren der Maya.
Die Mexikaner nannten Chiapas wenig charmant den »Arsch von Mexiko«, löchrige Infrastruktur, zu viel Armut, zu wenig Bildung. Als die Ärztin seinerzeit im Krankenhaus die Geburtsurkunde unseres Sohnes ausstellte, fragte sie, ob sie bei meiner Nationalität BRD oder DDR eintragen solle. Ein Vierteljahrhundert nach dem Fall der Mauer.
San Cristóbal war eine Projektionsfläche für Suchende aus dem entzauberten Globalen Norden. Die Revolutionstouristen suchten Hoffnung bei der zapatistischen Guerilla, die Spirituellen mit ihren Castaneda-Büchern erbaten Weisheit vom Peyote-Kaktus, und die Hippies suchten wie überall das ursprüngliche Leben, barfuß und mit goldener Kreditkarte.
Ich suchte eigentlich gar nichts 2010, als ich mich zwischen journalistischen Reisen zu Naturkatastrophen in Haiti und Pakistan etwas ausruhte in San Cristóbal, und gefunden wurde. Von der Liebe. Seitdem verbrachte ich mit meiner mexikanischen Kleinfamilie einige Monate im Jahr in der pittoresken Kolonialstadt.
Mannigfaltige religiöse Zeichen und Codes
Für mich als »überstrukturierten und bisweilen etwas verbissenen Alemán«, so der subtil schadenfrohe Diskurs bei uns am Küchentisch, gab es einiges zu entdecken in der Neuen Welt. Ein Kessel Buntes aus Geräuschen, Düften und Situationen: Absurd, phantastisch, anstrengend. Ich machte Bekanntschaft mit Improvisationstalenten, grundlosen Optimisten und positiven Fatalisten. Und wo ich auch war, begegnete mir: lebendiger Glaube. Mit seinen mannigfaltigen religiösen Zeichen und Codes, auf Häuserwänden, im Alltag, in der Kommunikation.
In dem »westeuropäischen Agnostiker, der einen offenen Geist pflegte« – so die Selbstverklärung meiner Wahl – küsste das eine unerfüllte Sehnsucht nach Rückbindung wach. Etwa wenn ich die Familien sah, die am Día de los Muertos, dem Tag der Toten, Wiedersehen mit ihren verstorbenen Verwandten feierten. Mit Mariachiband, pikantem Hühnchen und Hochprozentigem – an den Gräbern der Ahnen.
Oder der Taxifahrer, der sich beim Passieren eines wirklich jeden Gotteshauses (und es gab verdammt viele davon in San Cris!) so engagiert bekreuzigte, dass die Jesusfigur auf seinem Armaturenbrett milde zu lächeln schien. Seine demonstrative Frömmigkeit hielt ihn allerdings nicht davon ab, mich beim Bezahlen über den Tisch zu ziehen.
Und die Jünger der Jungfrau von Guadalupe, die jeden Dezember einen zweiwöchigen Ausnahmezustand in San Cristóbal anzettelten. Tausende Pilger, ganze Schulkassen und Belegschaften, campten dann im historischen Zentrum. Sie feierten die Virgin wie einen Rockstar, mit Popcorn und Feuerwerk, und rutschten auf blutigen Knien zu der nach ihr benannten Kirche am höchsten Punkt der Stadt.
¡Ay, Dios! – Oh, Gott!
Auf dem Weg von Gottes Apotheke zu meiner Gemüsehändlerin Lupita hörte ich schon von Weitem ihr Radio. Wie gewöhnlich verfolgte die Katholikin in Trance und ohrenbetäubender Lautstärke ein religiöses Programm, heute hatte sich ihr Mann durchgesetzt, es gab eine dystopische Predigt seiner Pfingstgemeinde. Als ihr eine Plastiktüte riss, und die kostbaren reifen Erdbeeren auf den Steinboden aufschlugen, zischte sie: ¡Ay, Dios! und schaltete das Radio aus.
Auf dieses Stoßgebet gen Himmel konnten sich wirklich alle einigen, selbst die Ungläubigen. »Oh, Gott!«, entfuhr es den Mexikanern bei einem Missgeschick, wenn sich Ungemach ankündigte oder wenn ein Unglück über sie hineinbrach: ¡Ay, Dios! Zum Besten gegeben mit einem Seufzer, verärgert ausgespuckt oder mit einer subtilen Lust am Untergang zelebriert.
Heiligenbilder gegen den Virus
Doch auch makropolitisch drehte sich eine Menge um den oder um das Glauben. Der mexikanische Präsident Andrés Manuel López Obrador, kurz AMLO, legte auf einer Pressekonferenz zu Beginn der Pandemie in Lateinamerika, als sich in Italien die Särge schon stapelten, ein ganz eigenes Gottvertrauen an den Tag.
Von Journalisten auf mögliche Versäumnisse seiner Covid-Politik angesprochen, fummelte der sich selbst zur Linken zählende AMLO zwei Heiligenbilder aus seinem Jackett. Diese Heiligenbilder, so teilte er den ungläubigen Pressevertretern grinsend mit, seien ein Schutzschild gegen den Corona-Virus. Und überhaupt sei Ehrlichkeit der beste Schutz in der Pandemie, befand der Präsident. Und da Mexiko nun eine anständige Regierung habe, nach all den korrupten neoliberalen zuvor, sei alles im grünen Bereich. ¡Ay, Dios, AMLO!
Ein Jahr und zweihunderttausend Corona-Tote später, Mexiko belegte den traurigen dritten Platz weltweit, ist vom vollmundigen Präsidenten zum Thema nicht mehr viel zu hören. Die Kritik an der Arbeit seiner Administration dagegen umso lauter. Ein beliebter Scherz in diesen Tagen geht so: Nach AMLO’s kürzlich überstandener Covid-Infektion könne sein Rücktritt nicht mehr lange auf sich warten lassen – jetzt, da medizinisch belegt sei, dass er ein Lügner ist.
Imagekampagne vermummter Gangster
Die mächtigen Mafia-Kartelle im Land hatten ganz offensichtlich bessere PR-Berater als der kolportiert beratungsresistente Präsident, sie ließen Taten sprechen. Mit denselben Pick-ups, die normalerweise Sicarios transportierten, um mißliebigen Konkurrenten das Licht auszublasen, wurden nun Care-Pakete ausgeliefert. Vermummte Gangster verteilten Reis, Bohnen und Tortillas an klamme Großmütter, die ihren Enkeln seit jeher einschärften, um Himmels willen keine Drogen bei eben jener Organisation zu kaufen, die sie nun mit dem Nötigsten versorgte. Eine wahrhaft teuflische Form der Nächstenliebe.
Dramatisch wurde diese bizarre Nothilfe der bewaffneten Nichtregierungsorganisationen, weil sie in der Bevölkerung auf fruchtbaren Boden fiel, was wiederum das Versagen des Staates aufzeigte. Dennoch dürfte das Bereitstellen der Lebensmittelpakete weniger mit plötzlich aufflammendem Mitgefühl der Kartellbosse in Krisenzeiten zu tun haben als mit schnödem Kapitalismus.
Da auch die Kartelle von der Pandemie in Kurzarbeit geschickt worden waren,(geschlossene Grenzen verschonten auch den klandestinen Handel mit berauschenden Substanzen, Menschen und Raubkopien nicht), war es der perfekte Moment für eine landesweite Imagekampagne, um die moralische Akzeptanz ihrer Marken (Sinaloa-Kartell, Los Zetas, Golf-Kartell, Jalisco Nueva Generación etc.) zu steigern. Und das mit übersichtlichem Budget, waren Grundnahrungsmittel doch deutlich billiger im Einkauf als Sendezeit im nationalen Fernsehen.
Wie sehr die Schattenwirtschaft der Kartelle längst an die sogenannte legale globalisierte Wirtschaft gekoppelt war, zeigte das Beispiel Wuhan. Als die chinesischen Behörden nach Ausbruch der Pandemie die Region abriegelten, drehte sie damit auch den Hahn zu für dringend benötigte Chemikalien zur Produktion von Crystal Meth. Ein überaus kostspieliger Schlag für die mexikanischen Kartelle.
Sehnsuchtsort und territorialer Triumph
Und dann war da noch die Sache mit dem »katholischen Kontinent«; ein Marketingcoup, der allerdings die Tiefenschärfe nahm.
Spätestens mit der Beförderung des argentinischen Erzbischofs Bergoglio zu Papst Franziskus hatte der Begriff wieder Konjunktur unter den Römisch-Katholischen. Schließlich war Franziskus der erste Pontifex aus Lateinamerika überhaupt, und mit ihm lebten dort mehr als 400 Millionen weitere Katholiken, knapp 40 Prozent aller weltweit.
Der katholische Kontinent war Sehnsuchtsort und territorialer Triumph (oder haben Sie schon mal von einem »muslimischen Kontinent« gehört?). Er erstreckte sich über ganz Lateinamerika, und genau das war ein Problem: Von Mexiko bis Chile waren mehr als 9.000 Kilometer zurückzulegen, die große Verschiedenheiten offenbarten; sozial, kulturell, ökonomisch und auch religiös.
Zudem war Lateinamerika ein launiges Chamäleon – was unsere populistische Sucht nach Eindeutigkeit unterlief: Unbändige Lebensfreude und tiefer Glaube trafen auf eine Vorhölle aus Armut und Gewalt. Blutrünstige Diktatoren nahmen in weißer Weste das Abendmahl entgegen, während die Amtskirche im Zweifel paktierte, und katholische Superhelden wie Óscar Romero und Juan Gerardi es mit ihrem Leben bezahlten, diese Friedhofsruhe gestört zu haben.
Auch lieferte er keine befriedigenden Antworten auf grundlegende Fragen: Wo kam er her? Und wo ging er hin, dieser viel beschworene katholische Kontinent? In Deutschland bewunderten nicht wenige Katholiken ein erfülltes, weil einfaches und von der Liebe zu Jesus geprägtes Leben in Lateinamerika. Lieber nicht sehen wollten sie, dass es europäische Krieger wie Kolumbus und Cortés waren, die das Christentum dort erst »populär« gemacht hatten: mit Folter, Versklavung und kulturellem Völkermord.
In Deutschland wurde Lateinamerika als die Herzkammer des Katholizismus gefeiert. Frei nach dem Honecker-Evangelium: Von Lateinamerika lernen, heißt siegen lernen! Nicht so gern sprach man darüber, dass sich gleichzeitig und ausgerechnet dort die evangelikale Palastrevolte innerhalb des Christentums zu einer veritablen Übernahmeschlacht ausgeweitet hatte. Es gab einen Exodus von Katholiken, die mit wehenden Fahnen zu den Charismatikern und Pfingstkirchen überliefen. Die Frage war nicht länger, ob diese wohl eines Tages die Mehrheit der Gläubigen in Lateinamerika stellten, sondern nur noch: Welches Land fiel als Nächstes für die Katholiken?
»Ich esse meine Freunde nicht!«
Auf meinem Weg nach Hause blieb ich vor einem kleinen Ladenlokal stehen. »Carniceria Jesús« las ich auf dem handgemalten Schild, das ein glückliches rosa Ferkel zeigte.
¡Ay, Dios! Jesus, ein Metzgermeister? Einer, der Geschöpfe seines Vaters tötete und ausweidete? Ich wollte mir gar nicht erst vorstellen, dass Gottes Sohn an diesem zynischen Komplott beteiligt sein sollte: Zweibeiner verspeisten ihre vierbeinigen Schwestern und Brüder – nicht aus Hunger etwa, sondern aus Heißhunger. Ich musste an einen Ausspruch des Literaturnobelpreisträgers George Bernhard Shaw denken: »Tiere sind meine Freunde und ich esse meine Freunde nicht.« Ich nahm mir vor, bei meinem nächsten Apothekenbesuch ein ernstes Wort mit Gott zu reden.
